Dem Volk aufs Portemonnaie geschaut

Fritz Ehlers

Die guten alten Zeiten sind vorbei. Werber arbeiten heutzutage härter, länger und mehr als je zuvor. Eigentlich erstaunlich, dass noch niemand medienwirksam die Erkenntnis ausgebreitet hat: Das Moore´sche Gesetz gilt nicht nur für integrierte Schaltkreise.

Die Folge dieser Entwicklung: Entfremdung ist eine der größten Gefahren im Leben eines Werbers geworden. Nicht die Entfremdung von Familie und Freunden. Facebook und WhatsApp retten hier, was zu retten ist. Es geht um die Beziehung zwischen Werbern und ihren Zielgruppen, deren Wünsche, Träume, Hoffnungen sie kennen und bedienen sollen.

Natürlich halten gut organisierte Unternehmen für ihre Agenturen oftmals sogar ausführliche Zielgruppenbeschreibungen parat. Nur sind das Informationen aus zweiter, wenn nicht sogar aus dritter Hand. Als ambitionierter Werber ist einem das nicht genug. Man will den Verbraucher selbst kennen – und zwar aus erster Hand. Für Menschen, die im Umgang mit Alkohol geschult sind, empfehlen sich Besuche von Bars, Fußballstadien und Volksfesten. Wer die räumliche Enge nicht scheut, kann auf U-Bahnen und Regionalzüge ausweichen.

Ein Problem bleibt dabei bestehen: Es gibt einen großen Unterschied, zwischen dem, was Menschen sagen, und dem, was sie tun. Der gern zitierte „Moment of Truth“ ist der, in dem der Verbraucher ein Produkt oder eine Dienstleistung kauft. Das geschieht in U-Bahnen und Regionalzügen bestenfalls online auf dem Smartphone. Und erfordert für den zielgruppenaffinen Werber neben einem exzellenten Sehvermögen die schauspielerische Fähigkeit, trotz starrem Blick völlig unbeteiligt zu wirken.
In Bars, Fußballstadien und auf Volksfesten hingegen beschränkt sich der Kaufakt in der Regel auf bereits erwähnte, alkoholische Getränke. Einen eleganten Weg, diesem Dilemma zu entkommen, bieten zwei Websites aus den Vereinigten Staaten: Kickstarter.com und Indiegogo.com.

Beides sind Websites, auf den Menschen Projekte vorstellen, die sie „crowdfunden“, also von anderen Menschen finanzieren lassen wollen. Die Projekte reichen von Themengebieten wie Bildung, Design und Umwelt bis hin zu Technologie. Die Höhe des Einsatzes ist gestaffelt, und der Mut, in ein privates Projekt zu investieren, wird abhängig von der Höhe des Einsatzes durch oftmals originelle, zusätzliche „Goodies“ belohnt.

Team-Favoriten: Musik

 

Kickstarter und Indiegogo bieten die Möglichkeit zu erkennen, an welche Projekte Menschen derart stark glauben oder welche Projekte sie derart lieben, dass sie bereit sind, dafür Geld auszugeben. Die jeweils erzielte Finanzierungsumme wird ebenso angezeigt, wie die Projekte, die ihr Finanzierungsziel nicht erreicht haben.

Besucht man die Plattformen ab und an (was man ja bequemerweise zu jeder beliebigen Uhrzeit und ohne die Zufuhr alkoholischer Getränke machen kann) wird man in der Lage sein, bestimmte Mikrotrends festzustellen

In welchen Bereichen werden die meisten Projekte vorgestellt? Welche Projekte erreichen ihr Finanzierungsziel? Über welche Motivationen werden Menschen bei der Präsentation für die Projekte begeistert? Wie hoch sind die einzelnen Finanzierungsstufen? Was wird den Interessenten als „Goodie“ mitgegeben? Wie sieht die finale Preisgestaltung für die Objekte aus, die aus den Projekten entstehen?

Spannend zu beobachten ist beispielsweise, wie sehr sich das Thema „Programmieren“ im Bereich „Bildung für Kinder“ nach vorne arbeitet. Früher mussten Kinder Klavier oder Ballett lernen, demnächst wird es Programmieren sein.

Kickstarter Projekt: Bitsbox

 

Um ein besseres Gefühl für diese Entwicklung zu bekommen, bin ich inzwischen stolzer Besitzer von Dash und Dotzwei programmierbaren Kleinrobotern, die inzwischen regulär verkauft werden. Ein weiteres Programmier-Projekt, das ich unterstütze habe, ist die monatlich erscheinende BitsboxSie wurde von 2.943 Unterstützern mit enormen 254.000$ gefördert und hat ihr Finanzierungsziel um ein Vielfaches übertroffen.

Das Beobachten von Kickstarter und Indiegogo kann eine fundierte Zielgruppenanalyse nicht ersetzen. Aber es kann sie ergänzen, ihr zusätzliche Aktualität und Originalität verleihen, vielleicht sogar einen neuen strategischen Ansatz ins Spiel bringen oder interessanter Gesprächsstoff für Kunden sein. Und: Es kann einem sogar Familie und Freunde wieder näher bringen, vorausgesetzt man führt sein mitfinanzierten Lieblingsprojekt zu Hause live vor.

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Fritz Ehlers

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Fritz Ehlers leitet seit August 2011 die Abteilung Art & Copy bei Cocomore. Er war vorher in führender Position unter anderem bei namhaften Netzwerkagenturen wie Publicis und McCann Erickson beschäftigt. Ein guter Kreativer ist für ihn jemand, der sich mehr für Menschen, Kultur und Technologie interessiert als für die Arbeiten seiner zahlreichen Werber-Kollegen. Vier Wörter mit denen sich Fritz beschreibt: neugierig, unverdrossen optimistisch, bärtig.